Die Latmos-Berge
liegen im Hinterland der Ägäis südlich des Flusses Menderes (Meander).
Eine geografische Besonderheit besteht darin, dass der "Kiesschaufler"
Menderes einen in der Antike noch vorhanden gewesenen Meeresbusen
kilometerweit zugeschüttet und einen Nebenarm mit Geröllmassen
abgeriegelt hat, ähnlich einer Gletscher-Seitenmöräne. So ist aus
einem Meeresarm der heutige, wegen nur geringer Süßwasserzuflüsse bei
gleichzeitig hoher Verdunstung immer noch salzige Bafa-See entstanden,
einstmals ein Zentrum antiker Kultur. Der Latmos ist vorwiegend aus
rötlichem Granit aufgebaut. Typisch ist eine schalenartige
Verwitterungsform, die Felsen in der Form von Riesen-Kartoffeln
hervorbringt, also nicht spitz und schroff wie in den Alpen. Angeblich
wird immer noch Losung vom Braunbären gefunden. Mit Sicherheit aber gibt
es giftige Schlangen und Stachelschweine in einer phantastischen, geradezu
biblischen Felswildnis.
Erster Tag:
10.05.2006
Wir, das sind vier Leutchen einer "Viererbande" plus Führer
Mustafa und zwei Träger, ziehen auf einer über 2000 Jahre alten,
teilweise stark zerstörten Pflasterstraße von Kapikiri (dem
antiken Herakleia) vier Stunden ins Gebirge bis auf eine Sommerweide der
Halbnomaden. Man lernt dabei, dass es Zistrosenwiesen in pink gibt. Auch
die anderen Blumenteppiche sorgen für herzerhebende Gefühle.
Am Nachmittag gibt einen Rundgang übers Ungebahnte mit Einblicken in
jungsteinzeitliche Höhlenmalereien, die sehr frühe Darstellungen
von Menschen bei Kulthandlungen zum Thema haben. Außerdem wurden wir
Augenzeugen der arbeitsintensiven Pinienkerngewinnung. Seither habe ich
ein ganz anderes Verhältnis zu meiner bislang eher achtlos
hingeschlenkerten Salatzutat.
Abends greift sich der Träger Mehmet (62) die mit herumgeschleppte
siebensaitige Saz bzw. Baglama am langen Hals (bauchiges Saiteninstrument mit
cembaloartigem Klang) und zupft ihr derart hinreißend am Bauch, dass es
der Erika und dem Werner in die Beine fährt. Außer Tänzchen und Mehmets
Gesängen über die Liebe und den Tod gab es natürlich auch reichlich vom
Nationalgetränk Raki. Das ist ein hundsgewöhnlicher Ouzo, nur mit noch
mehr "Allohool". Und was den Alkoholgenuss des muselmanischen Türken
betrifft, so findet der erstens im Finstern statt, also wenn´s Allah
nicht sieht, und zweitens hat Mohamed ja nur das Gebraute verdammt, nicht
das Gebrannte.
Nächtigung im Haus der Hatice. Unter Haus stelle man sich die Übertragung
des Prinzips der turkstämmigen Jurte auf einen rechteckigen Raum vor.
Alles Lebenswichtige findet hier ohne neuerungssüchtige räumliche
Funktionsdifferenzierung statt: Kochen, Essen, Schlafen, und zwar
ebenerdig.
Zweiter Tag, 11. 05.2006:
Beim Aufstieg zu den Ruinen des Stylosklosters erwischt uns ein
Zweistunden-Regen, der wohl letzte nach einem trockenen Winter bis zum
Herbst. Uns wird bei der zunehmend ins wildromantisch-unwirtliche übergehenden
Pfadfindung allmählich klar, warum wir drei Betreuer statt eines Esels als
Lasttiere dabeihaben. Ein Esel wäre so klug, sich zu weigern, auch nur
einen weiteren Schritt in diesem fragwürdigen Gelände zu tun. Er käme
freilich auch bei Gutwilligkeit mit seiner Last nicht durch diese
schluchtartig sich türmenden Felsbrocken. Trockenlegung der regenfeuchten
Saz und
der Menschen in einer Höhle auf dem Klostergelände.
Die eigentlich geplante Besichtigung der byzantinischen Freskenmalereien fällt
wegen des als zu gefährlich eingestuften Zugangs über einen
ungesicherten, nassen Steilabfall aus.
Beim Herumstöbern in den Katakomben findet Hartmut einen menschlichen
Backenknochen samt vereinzeltem Zahn. Wenn die Türken keine Touristen
essen, kann das eigentlich nur von einem der hier beigesetzten Mönche
stammen.
Aufgegeben wurde das Kloster 1088 unter dem Abt Ossios Christodoulos
(=Christusknecht) wegen der ewigen Stänkereien der turkstämmigen
Seldschuken, seit diese bei Manzikert (1071) den Byzantinern
heimgeleuchtet hatten. Die Mönche, die dieses öde Gebiet, das nur
Gottesnähe bietet, mit 10 Klöstern zur Hochburg des asketischen Mönchswesens
gemacht hatten, wichen auf die Insel Patmos aus. Und das erste, was einem
Christen zu tun anstand, war natürlich die Zerstörung eines heidnischen
Kultbilds der Artemis.
Über den Yuvatepe-Pass und Reste der antiken Straße geht es nach
Bagarcik. Rechterhand sieht man vom Pass aus erstmals, wo es morgen
durchgehen soll: die Nordseite des Tekerlekdag. Das sieht gar nicht
gut aus. Dass die so etwas als geführte Wanderung anbieten?! Die
Wirklichkeit war aber dann noch abenteuerlicher als bereits geahnt.
Besichtigung einer antiken Akropolis in der Nähe von Bagarcik. Hätten
die Christen 389 n. Chr. nicht die das gesamte Wissen der Antike hortende
Bibliothek von Alexandria niedergebrannt, wüsste man ihren Namen. So
bleibt es bei der dekorativen Lage und einem auf den Tekerlekdag (ehemals
Sitz des Regengotts, abgelöst von einem Zeus Akreus) ausgerichteten
Kultplatz.
Nächtigung im ersten Haus am
Platze, äähm, dem ersten gleich rechts,
wenn man ins Dorf Bagarcik reinstolpert. Christian zieht es vor, der
Raumenge ins flugs aufgestellte Zelt zu entfliehen. Der Vollmond und das
typische orgiastische Gebrüll von Fußballfans in den ersten
Morgenstunden lässt auf ein wichtiges Match irgendwo in Südamerika,
nicht aber die Augen schließen. Beizeiten beginnt dann das morgendliche
Konzert des türkischen Dorfs: Kollern des Truthahns, zum Melken
aufforderndes Muhen, Taubengegurre, Hahnenwettstreit und natürlich Esel
im Stimmbruch. Aber über dem Tal liegt zarter Nebel und verzaubert
die Schirmpinienhaine zu was Ostasiatischem, Hingetuschtem. Das versöhnt.
Dritter Tag, 12.05.2006:
Die hier herumstreifende heimat- und herrenlose Jagdhündin (mit einem bisschen
Dalmatiner drin), deren Wurf seit kurzem unauffindbar ist, leidet offenbar
außer an Hunger auch an einer postnatalen Depression. Diese Wöchnerin
entschließt sich, uns ins Gebirge zu begleiten. Wir scheinen ihr zunächst
vertrauenswürdig und mit mild schenkender Hand versehen. Außerdem kann
man ja die verlorengegangenen Welpen auch mal in der von uns
eingeschlagenen Richtung suchen.
Je weiter wir aber in die Felswildnis vordringen, umso misstrauischer lugt
sie von unten herauf, ob das denn wirklich unser Ernst sei. Menschen sind
sowieso recht seltsame Lebewesen, aber das hat sie denn doch noch nicht
gesehen. Da haben die vier Gliedmaßen wie jeder vernünftige Hund auch,
und die bedienen sich nur ihrer beiden Hinterpfoten. Manchmal werden sie
ja auch vernünftig, so wie eben jetzt: sie legen eine zusätzliche
Vorderpfote an, um sich der Standfestigkeit eines klugen Hundes wenigstens
schrittweise zu nähern. Und heimlich nimmt der eine oder andere auch die
vierte Pfote zu Hilfe. Ja, aber auch nur dort, wo kein auf sein Heil
bedachter Hund herumstromern würde.
Den Tekerlekdag (1375 m), den höchsten Berg in diesem Massiv,
hat dann nur
der Werner (72) von oben gesehen. Der Rest der Mannschaft scheiterte
entweder an Kleinmütigkeit oder an einer sehr engen, mit
Felssturztrümmern überdeckten, fast senkrechten, tunnelartigen Rinne, die
gemeinerweise auch noch eine scharfe Rechtswendung nahm. Stattliche Leute
bleiben da stecken. Ich (Christian) werde also wiederkommen müssen und
den Aufstieg von der anderen Seite aus probieren.
Der Weg um die östliche Schulter des Tekerlekdag zu unserem Lagerplatz
soll dem Vernehmen nach ein Hirtenpfad sein. In Wahrheit hat man sich eiförmige
Gebilde von 5 bis 6 Metern Größe als zusammengewürfeltes Blockwerk
vorzustellen, von deren Spitze man schaudernd in Spalten sah, in denen man
sich schon mit zerschmetterten Gliedmaßen liegen sah. Auf Reibung gehen,
Rucksäcke werfen und hupfen wie Bergziegen war angesagt. Wir winselten
innerlich voller Panik wie die Hündin, die diesen Wahnsinn gar nicht
begreifen konnte. Sie blieb immer weiter zurück und jaulte
herzerweichend. Gerne hätten wir sie mitgeschleppt, aber unsere
türkischen Führer hätten das nicht verstanden. Wir dachten schon, dass
wir diese Nacht kein Auge würden zutun können, denn beim Versuch, uns zu
folgen, würde sie unweigerlich in eine der Spalten stürzen und jämmerlich
umkommen. Uns war ziemlich elend zumute, denn wir hatten uns an diese
Bergkameradin schon gewöhnt. Da fehlte plötzlich ein ganzer verständnisvoll
schweigender Gesprächspartner.
Jenseits der ängstigenden Krabbelei dann die Kaffebohnen von Ziegen, ahhh...
und hier sogar ein regelrechter Kuhfladen! Wir sind gerettet.
Der Lagerplatz war ein ganz unglaubliches Stück unversehrter Natur. Ich
jubiliere noch jetzt, wenn ich bloß daran denke. Man kann das nicht
schildern, weil es nichts Vergleichbares in der Bergwelt gibt. Sinai ohne
Plastiktüten in den Sträuchern? Die Brotberge des Montserrat mit sanft
fallendem Weideland? Da fehlt die Weitsicht. Blankgeputzte Reinheit und
brustweitende Schönheit eines weltjenseitigen Orts, an den sich
höchstens
mal ein Hirt verirrt oder ein seltener, kleiner verrückter Haufen von
Bergwanderern. Wir haben jedes noch so kleine Schnipsel Papier
verbrannt,
so fromm und ehrfürchtig wurde uns ums Herz.
Irgendwann hatte auch das trostlose Jaulen des verlassenen Hunds aufgehört,
ganz einfach deswegen, weil er plötzlich wieder mitten unter uns war. Große
Erleichterung, und freudig kramten wir unsere Wurstrationen zusammen, um
diese tapfere Seele willkommen zu heißen
Vierter Tag, 13. 05.2006:
Abstieg, weglos, aber das kannten wir jetzt schon, nach Karahayit.
Sonnendurchglühte Pinienwälder,
verlassene Hochalmen, überwucherte Terrassen, abschüssige Blumenwiesen,
endlich Olivenhaine. Die Zivilisation hat uns wieder - und der Unrat.. Rücktransport nach
Kapikiri mit dem Bus des Wirts unserer Pension.
Was sonst noch war? Baden und Schwimmen im Bafasee. Viele Storchennester
mit zahlreichen, tschilpenden Untermietern (Sperlinge). Blühende
Granatapfelbäume. Klatschmohnfelder. Alle paar Meter tritt man auf eine
Schildkröte.
Und gegessen wurde unter anderem ein mit Joghurt angemachter Salat aus
Portulak (Salzmelde). Uns ging's gut. Ich will da nächstes Jahr wieder
hin. Allerdings dann eine entschärfte Tour...
Teilnehmer:
Dr. Christian Klotz als Initiator und Texter, Werner Elbert, Erika Hänsel, Hartmut
Rencker
Links:
www.seb-tours.de
http://www.agorapansiyon.com/de/index.html
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